Kapitel 1: Die Spurensuche beginnt Seite 4-7

Kapitel 1: Die Spurensuche beginnt Seite 4-7

Ich bewegte mich näher, als plötzlich jemand hinter mir flüsterte:
„Du gehörst nicht hierher.“

Zuckte ich zusammen. Neben mir stand ein Junge – etwa 12 Jahre alt, mit einem Lächeln, das gleichzeitig neugierig und altklug war. Seine Haut war von der Sonne gegerbt, aber seine Augen blitzten wie die eines modernen Kindes.

„Wie meinst du das?“, flüsterte ich zurück.

Er deutete auf die Samenkapsel, die sich plötzlich wieder in meiner Tasche bemerkbar machte – und nun, wie durch Magie, auf Taschengröße geschrumpft war. Ich tastete sie mit zittriger Hand. Warm. Pulsierend.

„Du hast ihn berührt“, sagte der Junge. „Dann hast du die Reise begonnen.“

Ich wollte etwas erwidern – doch da begann der Boden zu beben. Ein Riss zog sich durch das trockene Erdreich. Die Welt flimmerte. Ein neuer Zeitsprung?

Der Junge lächelte. „Du bist noch nicht fertig hier. Du musst verstehen, warum sie die Pflanze ehrten.“

„Die Samenkapsel beruhigte sich, ihr Pulsieren wurde sanft – als wolle sie mir sagen: Noch ist deine Zeit hier nicht vorbei. Es gibt mehr zu sehen, mehr zu verstehen. Die Reise, das wurde mir mit jeder Sekunde klarer hatte gerade erst ihren Anfang gefunden – so wie der Junge es vorhergesehen hatte.“

Die nächsten drei Tage verbrachte ich bei diesem Volk. Ich lernte, dass sie Hanfsamen rösteten und aßen, dass sie Öle pressten, Wundsalben herstellten, dass sie ihn als Kleidung, Werkzeug, Medizin und spirituelle Verbindung nutzten. Ich durfte mit der Schamanin sprechen – sie kannte keine Worte wie „Cannabinoide“ oder „Entzündungshemmer“, aber sie beschrieb die Wirkung präzise:

„Die Schmerzen werden weicher. Die Träume klarer.“

Sie erklärte mir, dass Cannabis bei Geburten verwendet wurde, bei Zahnschmerzen, gegen Fieber. Die Pflanzen wuchsen in der Nähe des Flussufers. Sie sammelten, trockneten und bewahrten sie in kunstvoll verzierten Tongefäßen auf – genau solche, wie sie Archäologen in der westchinesischen Hochebene Jahrtausende später ausgraben würden.

Ich sah, wie ein alter Krieger mit eingeriebenen Gelenken wieder aufstand. Wie ein Mädchen, das unter Bauchschmerzen litt, nach einem Sud aus Blättern und Samen wieder lächelte. Und wie die Abende am Feuer sich stets in Rauch und Geschichten hüllten – als sei der Dampf eine Brücke zu den Ahnen.

Die dritte Nacht war wolkenlos und klar. Der Himmel über mir wirkte so nah, dass ich dachte, ich könne die Sterne mit den Fingerspitzen berühren. Das Feuer war fast heruntergebrannt, und nur noch einzelne Funken stiegen wie Glühwürmchen in die Dunkelheit. Ich saß zwischen den Stammesältesten. Einer von ihnen, ein weißhaariger Mann mit einer Narbe über der Wange, begann leise zu sprechen – sein Blick ruhte auf dem Himmel.

Ich verstand nicht alle Worte, aber der Junge von vorhin, der sich mir als Tenu vorgestellt hatte, flüsterte mir eine Übersetzung zu.

„Morgen beerdigen wir einen der Unsrigen. Er war ein Träumer und Krieger. Es wird eine gute Zeremonie.“

Ich wusste sofort: Das war der Moment. Die Zeremonie, die später als einer der frühesten Belege für die rituelle Nutzung von Cannabis in die Geschichtsbücher eingehen würde.

Am nächsten Morgen trugen die Dorfbewohner den Toten auf einer Trage aus Hanfseilen zur Grabstelle. Sie hatten einen Grabhügel vorbereitet, in dessen Innerem kunstvoll geschnitzte Holzsärge lagen – umgeben von Tongefäßen, Werkzeugen… und einem kleinen Lederbeutel mit dunklem, getrocknetem Pflanzenmaterial. Der vertraute Geruch wehte mir entgegen – Cannabis, eindeutig.

Ich trat näher, als die Schamanin den Beutel öffnete, eine kleine Handvoll des Krauts auf heiße Steine legte und den Rauch mit einem schmalen Horn in das Innere des Grabs leitete. Dabei murmelte sie Worte, die mir wie ein uraltes Gebet vorkamen – gesprochen in einer Sprache, die nie niedergeschrieben wurde, aber tiefer wirkte als alles, was ich je in einem Buch gelesen hatte.

„Für seine Reise“, sagte Tenu.

„Wohin?“, fragte ich.

Er deutete auf den Himmel. „Dorthin, wo die Träume weitergehen. Wo die Pflanze uns wieder begegnet.“

Ich schluckte schwer. Das war nicht nur ein Grab – es war ein Portal, und die Pflanze war der Schlüssel.

 

Als sich der Rauch langsam verzog, spürte ich ein Vibrieren in meiner Tasche. Die Samenkapsel. Ich zog sie hervor. Sie schimmerte grünlich, und kleine, leuchtende Adern zogen sich über ihre Oberfläche.

„Du hast genug gesehen“, sagte Tenu plötzlich mit einem ernsten Blick. „Zeit, weiterzugehen. Es wartet schon jemand auf dich.“

„Wer?“, flüsterte ich.

Er lächelte nur. Dann tippte er mit einem Finger gegen die Samenkapsel – und in diesem Moment zerbarst der Horizont. Das Licht explodierte vor meinen Augen. Alles um mich herum zerfloss. Mein Körper wurde federleicht, meine Gedanken zu Wasser, das in alle Richtungen floss.

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